40 lang laufende Euro-Nacht-Sprinter-Linien können viele europäische Flugrelationen überflüssig machen
Ein Nachtzug, der abends in fünf größeren Städten hält und morgens wiederum in fünf Städten ermöglicht 25 Direktverbindungen. Ein einzelner Flug ergibt hingegen nur eine Verbindung. Über Nacht können mit schnellen, komfortablen Nachtzügen 1.000 bis 2.000 km Strecke zurückgelegt werden. Mit rund 40 solcher lang laufender Linien können somit hunderte Ziele in ganz Europa erreicht werden.
Gerade im internationalen Reiseverkehr stellt sich nach der Klimaentscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Frage, wie klimafreundliches Reisen funktionieren kann. Zwar gibt es inzwischen Ansätze für klimaneutrales Fliegen – jedoch zeichnet sich ab, dass die dafür einzusetzenden Technologien deutlich aufwändiger und teurer sind und auf absehbare Zeit nicht in dem Maße zur Verfügung stehen werden, um das heutige fossile Flugkerosin vollständig zu ersetzen. Daher muss auf so vielen Verbindungen wie möglich ein alternatives Angebot geschaffen werden, damit sich der Flugverkehr auf jene Relationen konzentrieren kann, bei denen andere Verkehrsmittel keine Alternative darstellen. Auf den verhältnismäßig kurzen innereuropäischen Strecken stellt die Schiene eine starke Alternative zum Fliegen dar – beziehungsweise kann und muss zur starken Alternative entwickelt werden.
Der Nachtzug erfährt eine Renaissance. Viele Menschen wählen den Nachtzug nicht nur aus Klimagründen, sondern weil sie sich wieder nach stilvollem und nachhaltigem Reisen sehnen. Dazu gehört, die Strecke zum Urlaubsort im wahrsten Sinne des Wortes zu erfahren. Nachtzug bedeutet Urlaub der besonderen Art – mit starken Erinnerungen und ohne Flugstress. Es gibt keine nervigen Wartezeiten, Sicherheitschecks und Check-in-Prozeduren, keine weite Anreise zum weit außerhalb liegenden Flughafen. Sondern man kann einfach mitten in der Stadt einsteigen, entspannt reisen und am Urlaubsziel oder der nächstliegenden größeren Stadt morgens ankommen. Während viele Menschen tagsüber Bahnfahrten von deutlich über sechs Stunden als lang empfinden, ist es über Nacht kein Problem, wenn die Fahrt zehn, zwölf oder auch mal sechzehn Stunden dauert. Denn einen Gutteil davon schläft man. Durch hochgeschwindigkeitstaugliches Nachtzugmaterial und neue Hochgeschwindigkeits- und Ausbaustrecken, Lückenschlüsse und technische Harmonisierung können die heute bereits möglichen Fahrzeiten weiter reduziert werden. Mit Distanzen von 1.000 bis 2.000 Kilometern über Nacht kann ganz Europa komfortabel und klimafreundlich mit der Bahn verbunden werden.
In letzter Zeit wurde gerade in Deutschland dem Nachtzugverkehr keine Chance gegeben. Angeblich fehlende Rentabilität in einer Zeit der Gewinnmaximierung zwangen die Deutsche Bahn – nach eigenen Angaben – zum Aus beim Nachtzugverkehr. Dabei zeigt die Österreichische Bundesbahn, dass Nachtzüge sich lohnen und ein interessantes Angebot für viele Reisende darstellen. Auch andere Anbieter wie beispielsweise Snälltåget oder der Alpen-Sylt-Nachtexpress bieten attraktive Verbindungen an.
All dies sind gute Ideen und Konzepte. Es fehlen jedoch entsprechende Strukturen und eine übergeordnete Vision, um ein einheitliches großes europäisches Nachtzugnetz aufzubauen. Insbesondere während der Ratspräsidentschaft hielt sich die Bundesregierung mit konkreten Ideen und Umsetzungsplänen zurück. Zwar veröffentlichte sie ein „TEE 2.0“-Konzept, das bisher allerdings nicht mehr ist als ein Pappschild, das fleißig vor jeden internationalen Zug gehalten wird. Konkrete Umsetzungen und Vereinbarungen mit Unternehmen gibt es nicht, eine Finanzierung von klimafreundlichen Angeboten lehnt die Bundesregierung weiterhin strikt ab. Nicht einmal die Trassenpreise wurden auf das von der Europäischen Union geforderte Maß abgesenkt. Bisher bleibt es also bei leeren Ankündigungen und Versprechen des Ankündigungsministers Scheuer. Die Krönung der Luftnummer war die medial groß aufgezogene Unterzeichnung einer unverbindlichen Absichtserklärung im Dezember 2020 zwischen vier europäischen Staatsbahnen, der DB, ÖBB, SBB und SNCF. Es umfasste wenige Sätze, dass man künftig enger zusammenarbeiten wolle.
Dabei könnte ein europäisches Netz mit rund 40 internationalen Linien viele innereuropäische Flugverbindungen überflüssig machen und europaweit mehr als 200, perspektivisch bis zu 500 Großstädte, Mittelstädte und Urlaubsregionen miteinander verbinden. Einige Euro-Nacht-Sprinter bieten direkten Anschluss an einen Hafen. So werden auch Urlaubsinseln wie Mallorca, Korsika, Sizilien oder Santorin per Nachtzug aus Deutschland erreichbar. Dafür dürfen die EU und die einzelnen Länder nicht nur am Streckenrand stehen und eifrig winken; sondern sie selbst müssen die Randbedingungen so gestalten, dass sich auch lang laufende, komplexe Nachtzugverbindungen über drei oder mehr Länder wieder rentabel betreiben lassen. Denn der Betrieb eines Nachtzugs ist deutlich aufwändiger und kostenintensiver als bei Tageszügen: Es müssen Betten gerichtet, spezielle Wartungs- und Abstellanlagen zur Verfügung gestellt und eigenes Nachtzugpersonal eingestellt werden. Ein weiteres Problem ist die Buchung. In Deutschlands führendem Online-Portal DB Navigator war bis vor kurzem kein Nachtzug buchbar. Neuerdings hat die DB die Möglichkeit der internationalen Online-Buchungen zwar verbessert. Trotz aller Kooperationsbeteuerungen geht die Motivation der DB jedoch nicht so weit, Ticketpreise für vermeintliche Kooperationspartner sofort in der Reiseauskunft anzuzeigen. Man muss sich zunächst umständlich durch Untermenüs klicken und es stehen häufig nicht alle Sitz-, Liege- und Schlafplatzkategorien zur Verfügung. Während Flugtickets über zahlreiche Online-Reiseportale unkompliziert erworben werden können, wird bereits die Buchung eines Nachtzugs zum Abenteuer.
Um tatsächlich zu einem transeuropäischen Hochgeschwindigkeits-Nachtzugnetz zu kommen, wollen wir in enger Absprache mit der EU und den beteiligten Staaten einen Fünf-Punkte-Plan in die Tat umsetzen:
- Wir brauchen komfortable, schnelle und leise Nachtzüge: Die Beschaffung von schnellen Hochgeschwindigkeits-Nachtzügen mit 200 bis zu 250 km/h und einheitlichen Standards sollte über die EU koordiniert werden. Einige Züge nach Spanien/Portugal und Russland oder die Ukraine müssen umspurbar sein und vermutlich bieten sich aufgrund der Interoperabilität in der Mehrzahl lokbespannte Traktionen an. Die Züge brauchen eine europaweite Zulassung. Bei der Finanzierung des Rollmaterials könnte die Europäische Investitionsbank (EIB) eine wichtige Rolle übernehmen. Seit mehr als 50 Jahren ist die EIB die internationale Entwicklungsbank der Europäischen Union. Mit ihren Investitionen fördert sie Projekte für nachhaltiges Wachstum und Klimaschutz.
Die Züge sollten zu reduzierten Kosten an interessierte Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) vermietet werden. Die Fahrzeuge können einheitlich beschafft und von den Herstellern gewartet werden. Es sollte einen Innovationswettbewerb für die Innenausgestaltung der Züge geben. Neben verschiedenen, angenehm gestalteten Komfortklassen muss auch die Möglichkeit der Fahrradmitnahme berücksichtigt werden.
Dadurch wird die größte Hürde genommen, die Unternehmen gerade haben: das passende Fahrzeugmaterial und das damit verbundene wirtschaftliche Risiko. Vorerst kann für die ersten Strecken auf bestehende Fahrzeuge zurückgegriffen werden. Durch eine einheitliche Beschaffung wären die Fahrzeugzahlen so groß, dass es deutlich günstiger wäre als Einzelbeschaffungen. Insbesondere für Hochgeschwindigkeits-Nachtzüge ist dies erforderlich, denn um die richtig langen Strecken in Europa zurückzulegen, braucht es schnelleres Wagenmaterial. Eine solche Bestellung lohnt sich nur bei einer Mindestanzahl. Auch für die Fahrzeug-Industrie ergäbe sich so eine verlässliche Perspektive. - Wir brauchen eine Buchungsplattform mit Vertriebspflicht: Die Nutzung der Züge wird an Bedingungen geknüpft. Dazu gehört die Teilnahme an einer einheitlichen Buchungsplattform und einer Datenschnittstelle, damit die Züge unternehmensübergreifend gebucht werden können. Alle kundenrelevanten Informationen müssen geteilt werden, auch Echtzeitdaten. Richtig attraktiv wird der Nachtzug erst, wenn auch Züge im Vorlauf und Nachlauf des Nachtzugs in einem Ticket als Durchgangsticket gebucht werden können, damit die Passagiere ihre EU-Fahrgastrechte zur Nutzung alternativer Züge bei Verspätung in Anspruch nehmen können. Hierfür bedarf es verbindlicher Regeln zur Aufteilung der Fahrpreiserlöse auf mehrere Eisenbahnverkehrsunternehmen oder zur Nutzung alternativer Züge bei Verspätungen (Weiterentwicklung des „Gemeinsamen Internationalen Tarifs“ - TCV). Zudem sollen Rabattkarten wie die BahnCard gültig sein, damit die Preise attraktiver gestaltet werden können.
- Wir brauchen ein attraktives Streckennetz, das die europäischen Metropolen und Urlaubsregionen verbindet. Die Nutzung der Züge verpflichtet zum Betrieb auf einer der vorgegebenen Strecken. Hierfür bedarf es einer Koordination auf europäischer Ebene, um sicherzustellen, dass sie verlässlich bedient werden. Deutschland als zentral gelegenes Land wäre prädestiniert, eine Führungsrolle zu übernehmen. Die von der EU als übergreifende Steuerungsebene für Interoperabilität und Sicherheit geschaffene Europäische Eisenbahnagentur (European Rail Agency, ERA) hat – angelehnt an die Zivilluftfahrt – ein „Eurocontrol für die Schiene“ als Koordinationssystem für den internationalen Bahnverkehr vorgeschlagen. In erster Linie steht bei diesem Vorschlag der Güterverkehr im Fokus. Aber warum sollten nicht auch Nachtzüge einbezogen werden? Ein „Eurocontrol Schiene“ könnte bei Trassenzuteilung, Koordinierung, Rollmaterial und Streckenplanung auf europäischer Ebene positiv einwirken. Ebenso könnte so die Harmonisierung von nationalen technischen Regeln, die oftmals Hemmschuhe für Nachtzüge bedeuten, beschleunigt werden. Die von uns entwickelte Nachtzugkarte „Euro Night Sprinter – Netzvision 2030+“ stellt einen ersten Diskussionsvorschlag für die Strecken dar.
- Wir brauchen faire Wettbewerbsbedingungen zwischen Flugzeug und Schiene. Nachtzüge sollen künftig von allen genutzt werden können. Wer klimafreundlich etwas länger unterwegs ist, soll nicht draufzahlen. Der internationale Flugverkehr wird aktuell sogar noch steuerlich bevorzugt. Diese unfairen Wettbewerbsverzerrungen – Airlines bezahlen keine Mineralölsteuer auf Flugkerosin und internationale Flugtickets sind sogar von der Umsatzsteuer befreit – müssen dringend korrigiert werden. Durch passende Angebote im Nachtzug für jeden Geldbeutel kann es gelingen, Nachtzüge preislich attraktiv zu machen. Wir brauchen günstige Tickets, die mit Flugpreisen konkurrieren können. Unter der Annahme, dass Fliegen aufgrund der Klimakosten ohnehin teurer wird, empfehlen wir europäische Frühbucher-Super-Sparpreise zwischen 29 und 99 Euro im bequemen Liegesitz.
- Wir brauchen eine gute und zu Grenzkosten nutzbare Schieneninfrastruktur: In vielen der dargestellten Verbindungen besteht noch Potenzial für kürzere Fahrzeiten. Denn vielerorts in Europa wird an Aus- und Neubaustrecken geplant und gebaut. Mit dem Brenner-Basistunnel und einer schnellen Alpentransversale schrumpft beispielsweise die Entfernung Berlin-Rom von 14 auf 12 Stunden. Zudem wollen wir auch die Trassen- und Stationspreise für Nachtzüge auf Grenzkosten-Niveau senken, damit die Verbindungen wirtschaftlicher und die Ticketpreise günstiger werden.
Unser Fünf-Punkte-Plan erfordert zum einen viel Kooperation auf europäischer Ebene, die über eine Stärkung der Europäischen Eisenbahnagentur ERA erfolgen könnte. Unsere grundlegende verkehrspolitische Forderung dahinter ist, dass die EU-Kommission beauftragt wird, den Aufbau und Betrieb eines europäischen Nachtzugnetzes voranzutreiben.
Zum anderen müssen für die Umsetzung entsprechende Mittel bereitgestellt werden. Um ein echtes europäisches Nachtzugnetz aufzubauen, müssen die EU und die beteiligten Staaten, vor allem auch Deutschland, Geld in die Hand nehmen. Dies gilt insbesondere für die ersten Jahre, um einen attraktiven neuen Nachtzug-Markt aufzubauen. Für uns Grüne steht klimaneutrale Mobilität im Fokus. Daher beteiligen wir uns mit starken Vorschlägen an der Debatte. Klar ist: Die Menschen sind bereit, Nachtzüge zu nutzen. Aufgabe der Politik ist es, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und entsprechende Angebote zu ermöglichen.